Einmal gab es viele Diener Allahs. In einem Lande
lebte nun ein Waisenmädchen. An dem Tage, da sein Mütterlein
der Erde anvertraut wurde, befiel nun seine Brust ein Feuer, sein Gesicht
wurde aschfahl. Konnte von da an diese Waise noch lachen? Wenn sie wenigstens
einen richtigen Vater gehabt hätte, der ihr Hilfe und Schutz gewährt
hätte. Noch bevor die Erde über dem Grab seiner Frau trocken
geworden war, überließ er sie der Stiefmutter. Die Stiefmutter
aber hatte ein Herz von Stein. Ihre eigene Tochter ließ sie keine
Arbeit verrichten, aber dieser Unglücklichen ließ sie weder
Ruhe noch Zeit. Sie spannt sie für alle Last an, schickt sie zu jedem
steilen Weg und läßt sie schließlich mit dem Sieb aus
dem Brunnen Wasser tragen. Trotzdem wird alles, was sie macht, zu einem
Dorn, der der Stiefmutter in die Augen sticht. Wahrlich, das war ein Leid,
das sie nicht ertragen konnte. Sie konnte das nicht mehr aushalten, und
sie hätte sich längst aufgemacht und wäre davongelaufen,
wenn nicht ihre gelbe Kuh und der Hahn mit Ohrringen allein und verlassen
gewesen wären. Weil sie auf der Pritsche des Stalles schlief, wurde
sie mit diesen beiden derart ein Herz und eine Seele, daß sie fast
ihre gegenseitige Lage in ihrer Sprache erklärten. Ihr Hahn krähte
jeden Morgen am Kopfende: "Erwache, mein Waisenkind, erwache! In der Welt
gibt es viel Kummer, aber auch viel Erheiterung. Die Unglückstage
dauern nicht bis zum Jüngsten Tag. Auch über dich werden solch
glückliche Morgen kommen, vielleicht heute schon oder morgen. Halte
dein Herz rein!" So also schien damals im Herzen des Waisenmädchens
ein Hoffnungsstrahl, und es war ihm schon mal so zumute, daß es wünschte,
den Hahn zu fassen und ihn ans Herz zu drücken. Die gelbe Kuh, die
sie "goldiger Liebling" nannte, wurde der Waisen, die seit der Mutterzeit
nicht gelacht hatte, eine Mutter. Sie gab ihr aus der einen Brust Honig,
aus der anderen Sahne zu trinken. Das Mädchen umarmte sie wie ein
Kind und erzählte ihr, wie einer Mutter, all ihren Schmerz. Aus diesem
Grunde gehörte die ganze Welt ihr, wenn man ihr die gelbe Kuh übergab
und man sie auf die Weide schickte, um sie loszuwerden. Eines Tages trieb
sie wiederum die gelbe Kuh vor sich her und brachte sie zu einem Ort, wo
Grünfutter war. Während sich die Kuh satt weidete, streckte sie
sich unter einem Baum aus und begann Knäuel für Knäuel Wolle
zu spinnen. Plötzlich wehte ein Wind über die Berge und trug
Wolle und Knäuel fort. Das Waisenmädchen wußte nicht, was
ihm zugestoßen war. Es verhält sich ja mit der Stiefmutter so,
daß sie auch rein gar nichts anerkennt. Weiß Gott, für
ein Stückchen Spinnfaden würde sie sie opfern! Wenn es sich nun
um solch ein Knäuel handelt, was für einen Krach würde sie
schlagen! Stellt euch das nur mal vor! In dieser Furcht sprang sie auf
wie vom Schlag getroffen und lief dem Knäuel nach. Das Knäuel
lief fort, sie lief fort; das Knäuel lief weiter, sie lief weiter.
Aber weder blieb das Knäuel an einem Gestrüpp hängen, noch
fing es sich an einem Baumzweig vor der Gewalt des Windes. Indem 'es immer
weiterrollte, gelangte es in eine Hütte, und das Mädchen folgte
hinterdrein. Da sah es -
was
sollte es sehen! -
eine weißhaarige Frau, die auf einer
Matte saß und vor sich einen Spiegel hatte. Das Mädchen verneigte
sich sogleich, um ihr die Hand zu küssen. Nun aber war jener Spiegel
der Weltenspiegel. Was alles das Schicksal brachte und nahm, zeigte der
Spiegel klar und deutlich. Wenn man doch alles so vollständig wie
diese Frau erfassen könnte! Während das Waisenmädchen noch
erklären wollte, wie es geschehen sei, daß es vor ihre Tür
gekommen war, sagte die weißhaarige Alte: "Gib dir keine Mühe,
mein Kind! Was habe ich schon alles gesehen! Ich habe ein Kind gesehen,
das seine Mutter verloren hat, und eine Mutter, die nach ihrem Kinde schreit.
Ja, mein kleines Mädchen, ich weiß alles, was über dich
gekommen ist und dein Herz bewegt. Der Wind hat dein Knäuel aus deiner
Hand fortgetragen, nicht wahr? Die guten Geister werden mit ihm die Hand
und Zunge eines blinden Satans binden. Wenn du dich vor deiner Stiefmutter
fürchtest, nimm von der Wolle auf meinem Kopf, soviel du nehmen kannst.
Du kannst wieder drehen und spinnen und Knäuel machen und sie vor
ihr ausschütten. " Das Waisenmädchen traute seinen Ohren nicht.
"Ach, Mütterchen, wie kannst du das sagen! Wenn ich meinen Kopf schone
und von deinem Kopf ein Haar ausreiße, was soll der liebe Gott sagen.
Würden dann meine beiden Hände nicht zu Stein? Was ich schon
tue, ist meiner Stiefmutter ein Dorn im Auge. Ob ich den Wasserkrug zerbreche
oder ihn fülle, das ist ein und dasselbe. Hat sie nicht immer einen
Vorwand? Laß sie, wenn ich das Knäuel dem Wind gegeben habe,
mich in den strömenden Bach werfen. Was macht's schon aus, nachdem
ein Tag so traurig ist wie der andere?" Das Mädchen begann nach diesen
Worten zu klagen und zu jammern, und darauf sagte die alte Frau: ,"Weine
nicht, Mädchen, weine nicht! Da du dieses Juwel von Herz hast, wird
es Gott, wo es traurig ist, eines Tages erfreuen. Wasche dir doch mal Gesicht
und Augen!" Sollte sie nicht ihre Hände nach ihr ausstrecken! War
es Zauber, war es ein Wunder, was war es? Aus ihren zehn Fingern begann
tropfenweise ein Licht zu tropfen. Das Waisenmädchen wußte nicht,
was das war. Es rieb sich in dem Gedanken, daß es vielleicht nütze,
das Gesicht und die Augen. Es erhielt den Segenswunsch der weißhaarigen
Alten und ging darauf zu der gelben Kuh. Als es aber nach Hause zurückgekehrt
war, brach dort ein Donnerwetter los. Nachdem die Stiefmutter das Mädchen
von Kopf bis Fuß gemustert hatte, rief sie: "Ach, in was für
Zeiten sind wir geraten! Es ist gut, daß es über uns nicht Steine
regnet. Mann, schau dir an, was deine Tochter fertiggebracht hat! Ich lasse
sie nicht mehr über die Schwelle treten. Schlechte Gesellschaft verdirbt
gute Sitten. Meine Tochter benimmt sich tadellos im Hause." Sobald sie
das Geschrei angestimmt hatte, wackelte der Boden. Da kam ihr Vater und
sah -
was
sollte er sehen! -,
daß sich seine Tochter völlig verändert
hatte; ihre Augenbrauen waren wie Federkiele hingezogen, ihre Wimpern waren
von der Schminke ganz stark geworden, ihre Lippen waren blutrot, ihre Wangen
waren voll von Schönheitsmalen. Dem Mann blieb der Verstand stehen
und er rief aus: "Du undankbares Geschöpf ! Meine Zunge sträubt
sich, zu dir "Tochter" zu sagen. Was soll das, die rote Schminke in deinem
Gesicht? Was soll das, die Schminke an deinen Augenlidern? Willst du unser
Haus in schlechten Ruf bringen und unseren Namen nicht hochhalten? Von
heute ab ist für dich in unserem Haus kein Platz mehr. Geh zu dem
Schuft, der dich vom richtigen Weg abgebracht hat, und leg dich ihm zu
Füßen!" Als das arme Mädchen so zwischen zwei Feuer geraten
war, wußte es nicht, was ihm geschehen war. Sein Herz stockte und
es erstarrte auf der Stelle. Seine Augen verdunkelten sich. Sobald seine
sogenannte Schwester ihm den Spiegel in die Hand gereicht und ihm einen
Faustschlag auf den Kopf gegeben hatte, kam es wieder zu sich. Als es in
den Spiegel schaute und aus seinem Gesicht und seinen Augen ein Licht fließen
sah, schrieb es dieses dem Zauberspruch der alten Frau zu und rief: "Das
ist also der Grund für die Verleumdungen und Verdächtigungen.
In meinem Gesicht liegt eine Entehrung, glaube ich. " Nach diesen Worten
begann die Waise traurig und betrübt zu weinen. Je mehr sie weinte,
um so schöner wurde sie; je schöner sie wurde, um so lieblicher
sah sie aus. Sie wurde wie ein Engel aus dem Paradies. Da sprach die gelbe
Kuh durch Gottes Ratschluß: "Ach, ihr grausamen Geschöpfe Gottes!
Wie könnt ihr euch hinreißen lassen und böse Reden gegen
dieses Waisenkind führen? In dem Mond, der aufgeht, und in der Sonne,
die untergeht, gibt es dunkle Flecken, bei ihr aber nicht. Ich bin Zeuge
für sie, auch der Himmel ist Zeuge für sie!" Die anderen wußten
nicht, was ihnen geschah. Ihr sogenannter Vater blickte einmal nach den
Augen der Kuh, einmal in das Gesicht seiner Tochter. Darauf sprach er zu
seiner Frau: "Es stimmt ja, es gibt Verstand und Wissen. Wenn das in ihrem
Gesicht Schminke und Puder wären, würden sie dann diesem Tränenfluß
standhalten?" Jetzt hatte sich der Vater getraut, einmal im Leben die Wahrheit
zu sagen, aber glaubte es die Stiefmutter? Nein, sie glaubte es nicht!
Sie ging zum Mädchen und schüttete ihm vierzig Kessel Wasser
über den Kopf, aber weder von seinen Augenbräuen war eine Linie
abgewischt, noch von seinen Schönheitsmalen ein Punkt . . . Da biß
sich die Frau auf die Zunge, indem sie zu sich selbst sprach: "Ist sie
vielleicht an irgendeine Stelle auf dem Berg oder Bergpaß geraten?
Wie können wir es anstellen, wie können wir es herausbekommen?"
Die Schönheit des Mädchens erregte sie immer mehr, und von jenem
Tage an versuchten sie es bei ihr auf diese und jene Art, um es herauszubekommen,
und stellten alles mögliche an. Da erfuhren sie das Geheimnis der
Hütte und der Frau, die darin war. Sollten sie jetzt noch lange abwarten?
Am folgenden Tag in der Frühe übergab die Mutter ihrer eigenen
Tochter die gelbe Kuh, um sie zum Weideplatz zu bringen. Gott gibt nicht
nach dem Worte des Menschen, sondern gemäß seinem Herzen. Nun,
die Kuh ging, das Mädchen ging, der Rauch ging, der Staub ging. So
kam sie zu jenem Ort, wo Futter und Grünes war. Sie tat, als wollte
sie Wolle spinnen und ein Knäuel machen, aber hatte sie jemals so
etwas in ihre Hand genommen? Dabei stellte sie sich ganz ungeschickt an.
Was sollte der Wind, was sollte der strömende Bach! Sie sah, daß
es so nicht ging. Sie stand also auf, um das Knäuel selbst in die
Hütte zu bringen. Sie stand zwar auf, aber bisher war sie weder über
Stock noch Stein gegangen. Wie sollte sie auf- und absteigende Wege ertragen!
Sie rollte, wie das Knäuel, den Berghang hinunter und blieb in ihrem
Blut liegen. Mühsam schleppte sie sich zu der Hütte, aber als
sie die alte Frau sah, traute sie ihren Augen nicht: "Ach, dieses schmutzige,
elende Weib soll die Frau sein, die ein lichtvolles Antlitz hat? Ihr Haar
ist wie ein Spinnennetz, aus ihrem Gesicht tritt Verruchtheit hervor, sie
ist eine richtige Hexe!" Sie küßte weder ihre Hand noch ihren
Kleidersaum. Mürrisch brachte sie heraus: "Hexe, was spinnst und webst
du hier?" "Nur Gott weiß, wer was ist, mein Kind. Mit was für
einem Auge mich jemand ansieht, so sehe auch ich ihn an. Was mein Spinnen
und Weben betrifft, so ist es entsprechend dem Herzen und der Absicht des
einzelnen. Was einer spinnt, das webe ich. Ja, ich traue mich nicht, es
zu sagen. Willst du mal, um deines Vaters willen, mein Haar und meinen
Kopf anschauen, mein Kind!" "Dein Haar und dein Kopf sind abscheulich anzuschauen,
alte Hexe!" "Willst du wenigstens mein Gesicht und meine Augen mal abwischen?
" "Dein Gesicht und deine Augen sind nicht so, daß man sie abwischen
sollte, alte Hexe!" "Ach ja, vielleicht hast du etwas davon mitbekommen,
mein Kind! Komm, wasch dir mal dein Gesicht und deine Hände! " Kaum
hatte sie ihre zehn Finger ausgestreckt, wusch sie sich sogleich Gesicht
und Hände - das war ja auch ihr Wunsch. Dann trieb sie die gelbe Kuh
vor sich her und kehrte nach Hause zurück, ja, sie kehrte heim. Aber
als ihre Mutter sie in ihrem Zustand gesehen hatte, erstarrte ihr Blut
und alle ihre Adern stockten. Bei diesem Verhalten wurde es der Tochter
seltsam zumute und sie sprach: "Aber Mutter, was ist denn mit dir los?
Was hat dir denn die Sprache verschlagen? Warum machst du nicht den Mund
auf und sagst keinen Ton?" Auf diese Frage sagte ihre Mutter weder ja noch
nein und hielt ihr nur den Spiegel vors Gesicht. Da schaute sie hinein
was
sollte sie sehen?
Weder war an ihren Augenbrauen ein Haar, noch
an den Augen eine Wimper geblieben. Als ob ein böser Geist ihr Gesicht
zerkratzt hätte, so ungeheuer war es zerzaust. Das Mädchen, dem
"der Sperling in der Hand lieber war als die Taube auf dem Dache", fühlte
sich an sieben Stellen von Kugeln getroffen und zerschlug den Spiegel in
seiner Hand am Stein mit den Worten: "Hast du gesehen, was mir passiert
ist? Wer wird noch seinen Kopf erheben und mir ins Gesicht schauen?" Sie
begann zu jammern und zu klagen. Darauf brach im Haus ein Donnerwetter
los: "Durch dich ist alles geschehen!" Es gab überhaupt nichts, was
man dem Waisenmädchen, das seit seiner Kindheit nicht gelacht hatte,
nicht angetan hätte. Fast hätte man ihr sogar die Haut vom Leibe
abgezogen. Da sprach wiederum die gelbe Kuh: "Ach, ihr ungerechten Diener
Gottes! Das Waisenmädchen hat keine Schuld, Schuld hat das Mädchen,
dessen Ohr nicht hört, was ihrem Mund entfloh. Es hat jener verständigen,
weisen Frau gegenüber so ungehörige und böse Worte gebraucht,
daß selbst den Bergen und Steinen das Herz brach. Sollte das Mädchen
unbestraft bleiben für das, was es getan hat? So ist es in einen Affen
verwandelt worden. Wenn ihr wollt, könnt ihr euch rühmen oder
mit Steinen werfen." Die Stiefmutter schäumte und raste vor Wut und
ging auf die gelbe Kuh zu, indem sie schrie: "Du elender Bastard, bist
du der Sprache mächtig? Du bist der eigentliche Grund für alles!
Wenn man dich nicht zur Weide gebracht hätte, hätte man weder
Wasser auf die Mühle für jenes Mädchen gegossen, das jedem,
der ihm ins Gesicht schaut, Unglück bringt, noch wäre mein eigenes
goldiges Töchterlein in ein solch zerrupftes Huhn verwandelt worden.
Behalte deine Milch für dich selbst! Die Schönheit soll dem Mädchen
kein Glück bringen!" Als sie sich nach diesen Worten auf den Weg zum
Schlächter Hadschi machte, umfaßte das Waisenmädchen ihre
Hände und den Saum ihres Gewandes und flehte: "Wenn du die Kuh schon
umbringen willst, bring mich um, aber schone doch diese gutmütige
und verträgliche Kuh! Welche Kuh kann denn sprechen und reden? Es
muß doch einen geben, der sie zum Sprechen brachte. Wenn du ihr auch
nur ein Haar krümmst, mit was für einem Gesicht kannst du später
vor Gott hintreten! " So flehte sie zwar, aber die Augen der Stiefmutter
füllten sich auf einmal mit Blut. Voller Zorn schrie sie: "Du blödes
Waisenkind! Bist du denn der einzige Mensch, der mir Vernunft beibringen
will? Kümmere dich um deinen eigenen Kopf. Ich will erst einmal drei
Handvoll Blut von ihr trinken, dann werde ich dir zeigen, wozu ich mit
dir fähig bin. " Darauf ging sie fort. Das Mädchen aber fiel
der Kuh um den Hals und begann schluchzend zu weinen. Viel Zeit verging
nicht, da erschien der Schlächter mit den blutigen Messern vor der
Tür. Aber die goldgelbe Kuh sagte weder "maa" noch "muh"; sie hielt
dem Schlächter ihren Kopf hin und überlieferte sich ihm. Der
Mann wandte sich zur Stiefmutter und sagte: "Was wissen diese Tiere nicht
alles, sogar, daß sie sterben, merken sie. Wenn die gelbe Fliege
erscheint, kommen sie auf eigenen Beinen und halten ihren Kopf hin." Da
setzte er sein Messer an, aber es schnitt nicht. Mit den Worten "Im Namen
Gottes" setzte er es nochmals an, aber wieder schnitt es nicht. Nochmals
versuchte er, aber auch diesmal schnitt es nicht. Da griff sich der Schlächter
Hadschi an den Bart und rief: "O Gott, o Gott! Mein Messer schneidet, wenn
es ein Stein wäre, auch den Stein. Das ist mir ein Rätsel. Wahrhaftig,
ich kann dem guten Tier jetzt nicht mehr ein Härchen krümmen."
Darauf warf er das Messer fort. Die Stiefmutter war so ärgerlich,
daß sie den Mund nicht mehr auftat. Aber von jenem Tage an gab es
für sie weder Feld noch Berghang, weder Gras noch Kraut; die Kuh bekam
eine Handvoll Stroh, das Mädchen eine Scheibe Brot. Auf diese Weise
beabsichtigte sie beide verhungern zu lassen. Das beabsichtigte sie zwar,
aber das Waisenkind aß sein Brot nicht, es benetzte es mit seinen
Tränen und gab es der goldgelben Kuh; die aber mischte zu der weißen
Milch Honig und Rahm und ließ das Waisenkind trinken. Inzwischen
waren Monate und Jahre vergangen, aber Haß und Groll waren nicht
vergangen. Was sollen wir jetzt sagen. Gott möge es auf seine Waage
legen! In jenen Tagen fand in einem der großen Landhäuser eine
Hochzeit statt. Es wurde zwar nicht jeder offiziell eingeladen, es war
ja auch nur ein Landhaus . . . Die Türen aber standen offen, und keiner
verwehrte den Eintritt. Diejenigen, die den Tag feiern wollten, kamen in
großen Scharen. ' Kann man bei einer solchen Hochzeit fehlen! Auch
die Stiefmutter kleidete ihre Tochter, die in ein Affengesicht verwandelt
war, mit den Worten an: "Meine liebe, goldige Tochter." Sie zog ihr die
Augenbrauen mit dem Stift und schminkte ihre Augen und rief: "Auf zum Hochzeitshaus!"
Das sagte sie zwar, aber als sie aus der Tür heraustraten, streckte
sie ihren Kopf zum Stall und sagte: "Du blödes Schaf von Mädchen!
Ich führe mein Herzenskind zur Hochzeit. Ich hole dich heute aus dem
Stall, damit du auf die Tür und den Kamin aufpaßt. Wenn auch
nur einer Nadel etwas passiert, stecke ich dich in ein mit Nadeln gespicktes
Faß." So vergaß sie nicht, ihre Stieftochter einzuschüchtern.
Dem Waisenkind wurde es weh ums Herz. Die Worte der Frau mit scharfer Zunge
drangen ihr wie eine Kugel ins Herz. Wenn sie sich nicht beherrschen konnte,
was
sollte sie tun!
Sie umarmte die gelbe Kuh und begann unter
vielen Tränen zu sprechen: "Ach, meine liebe, goldige Kuli! Du kennst
diese Menschen nicht. Die meisten Väter lassen den Schornstein rauchen,
die Mutter kümmert sich um die Kinder. Gott hat die meinige genommen,
er möge die der anderen nicht nehmen. Wer führt und leitet ein
mutterloses Kind, wer nimmt es zur Hochzeit mit? Wenn man in die Hände
einer Stiefmutter geraten ist, was kann einem da alles passieren! Wenn
ihr sonst nichts einfällt, spricht sie so scharfe Worte, daß
man das mit Nadeln gespickte Faß vorzieht. Wenn man schön ist,
was hat man davon! Was hilft einem, wenn man auf der Welt keinen schönen
Tag erlebt hat. Ach, was wäre geschehen, wenn die alte Frau das, was
sie mir gegeben hat, doch der Stiefschwester gegeben hätte. Dann wären
mir wenigstens diese neidischen Wutausbrüche erspart geblieben." Während
sie so klagte und jammerte, sprach die gelbe Kuh: "Weine nicht, mein Waisenmädchen,
weine nicht! Eines Tages hat die Hand einer Baumfee meine Stirn berührt.
An der Stelle, die sie berührt hat, wachsen jetzt drei Haare. Entweder
ist das ein Zeichen von jener Fee oder eine glückliche Botschaft von
jener alten Frau mit dem lichtvollen Antlitz. Reiß du doch eins von
jenen Haaren aus und verbrenne es. Wir wollen mal sehen, was Gott gewähren
wird." In den Augen des Waisenmädchens leuchtete ein Hoffnungsfunke
auf. Sie brannte eins von den Haaren an und da sah sie auf einmal -
was
sollte sie sehen! -,
daß vor der Tür ein Wagen stand;
in dem Wagen befand sich ein zusammengefaltetes Einschlagetuch; in dem
Einschlagetuch befand sich alles, was man sich für die Hochzeit wünscht,
von den mit Goldfäden gewirkten bis auf die mit Schaumünzen geschmückten
Kleider, von den rotfarbenen bis auf die veilchenblauen, mit Blumen und
Blättern bestickten Samtkleider. Das arme Mädchen konnte sich
gar nicht satt sehen, und es stand darob wie erstarrt da. Darauf sagte
die gelbe Kuh: "Voran, mein liebes Waisenkind! Bleib nicht wie angewurzelt
stehen! "Das Nest des verwaisten Vogels baut Allah." Kleide dich an und
schmücke dich und gehe jetzt hin! Die Hochzeitsgäste sollen mal
eine Schöne sehen. Dein Herz soll sich etwas erfreuen und erheitern."
Das Mädchen machte sich daran, sich zu schmücken, es kleidete
sich an und putzte sich; es wurde so süß wie Honig. Von der
Rose nahm sie ihre Farbe, vom Veilchen ihren Duft, die Haare hingen wie
Hyazinthen bis zu ihren Fußknöcheln, ihre Augen berauschten
und brachten das Blut zum Wallen. Kaum war sie in solcher Aufmachung und
Ausschmückung durch die T'ür ins Haus getreten, rissen die Hochzeitsgäste
Mund und Augen auf und waren wie vor den Kopf geschlagen, als ob sie sagen
wollten: "Aus wessen Garten kommt diese Rose, aus wessen Hain diese Hyazinthe?"
Sie blickten einander an. War schon eine solche wie sie auf der Erde gesehen
worden? Natürlich gab es niemand, der sie kannte. Der Gastgeber meinte
sogar: "Gebt acht, vielleicht kommt sie aus dem Serail und hat die Angehörigen
des Wesirs und der Wesire verlassen." Er begann an ihrer Seite wie ein
Falter ums Licht zu tanzen. Jetzt spielte bewegt die Musik und die Mädchen
sangen liebliche Weisen. Das Hochzeitshaus hat Hochzeit gefeiert, und das
Waisenmädchen hat sich einen schönen Tag gemacht . Als sie sah,
daß die Stiefmutter, die in einer Ecke zusammengekauert hockte, und
die Stiefschwester, die wie ein Paradiesvogel aufgeputzt war, mit verstohlenem
Blick auf die Tür schauten, dachte sie: "Es ist höchste Zeit!"
und brach auf. Man wünschte Glück auf den Weg, indem man an sieben
Stellen den Saum des Gewandes beim Gehen küßte, wie man sie
bewillkommnet hatte, als sie kam. Aber als sie an dem Platz, den man Bassinplatz
nannte, vorüberkam, da fiel ihr der eine Schuh in das Bassin. Da man
nicht hineingehen kann, wie soll sie hineingehen! Da man ihn nicht herausholen
kann, wie soll sie ihn herausholen! Sie war ja schon traurig, aber sie
sagte sich: "Vielleicht bringt das Gutes,!" Als sie das zum Guten gedeutet
hatte, wurde ihr Herz beruhigt. Sollte sie noch bleiben? Ohne sich den
Leuten zu zeigen und ohne auf ein anderes Hindernis zu stoßen und
in Schwierigkeiten zu geraten, kehrte sie nach Hause zurück, zog sich
um und schlüpfte wieder in ihre Lumpen, an denen an vielen Stellen
die Flicken nur so herunterhingen. Derweil kamen auch die anderen, aufgebläht
wie Truthähne. "Mädchen, Türhüterin, habe ich dir nicht
aufgetragen, Tür und Kamin zu bewachen? Hast du das getan?" " Ja,
ich habe sie bewacht, aber es ist keine Menschenseele gekommen und hat
an unsere Tür geklopft." "Aber, du dumme Ziege, wer ist denn schon
draußen auf den Bergen oder Abhängen gewesen, der an unsere
Tür hätte klopfen sollen! Alle Leute haben das Hochzeitshaus
wie einen Bienenkorb gefüllt." Nicht deswegen, weil sie das arme Mädchen
menschenwürdig behandeln wollte, sondern damit sie vor Neid zerplatze,
begann sie die Hochzeitsfeier zu schildern: "Was gab es dort nicht alles!
Na, eine Schöne war gekommen, eine so Schöne, um die Wahrheit
zu sagen, eine so Schöne, wie sie die Mütter nicht zur Welt bringen
können. Wer weiß, wessen Feenkönigs Töchterlein sie
war. Alle, die sie sahen, erfreuten sich des Lebens und des Glückes.
Aber da wurde mein Herz besonders glücklich! Fragst du, dumme Ziege,
warum? Ja, die Schöne, derengleichen noch nie gesehen wurde, ließ
so viele Vornehme und Adelige links liegen und setzte sich ausgerechnet
zu mir. Sie liebkoste und streichelte mein goldiges Töchterlein sehr."
Wie sie immer mehr angab und weiterspann, da mußte sich das Waisenmädchen
auf Lippen und Zunge beißen, um nicht zu lachen. Wie es auch sei,
sie soll fortfahren und Lüge auf Lüge häufen. Wir aber wollen
in der Geschichte von einer anderen Seite aus fortfahren. Eines Tages wollte
der Sohn eines Padischahs sein Pferd tränken, aber kaum beugte dieses
folgsame Tier seinen Kopf zum Wasser, zog es ihn zurück, spitzte die
Ohren und scheute zurück. Da der Königssohn keinen Grund für
diese Furcht sah, beugte er sich nieder und sah, daß auf dem Grunde
des Bassins etwas Glitzerndes lag. Da zog er es heraus, es war ein mit
Silber- und Goldfäden bestickter Schuh, aber ein Schuh, wie man ihn
noch nie gesehen hatte und auch nicht sehen würde. Mit der Schere
war er nicht geschnitten, mit der Nadel nicht genäht . . . Dem Königssohn
blieb der Mund offen; er rief:
"O
Gott, o Gott! Wenn dieser Schuh schon so schön ist,
wer weiß, wie schön das Mädchen
erst sein muß, das ihn getragen hat." In diesem Augenblick kam schleppend
eine buckelige, alte Frau daher. Als die Seufzer des Königssohnes
an ihr Ohr drangen, richtete sie sich auf, schaute ihn aus einem Augenwinkel
an und sprach: "Nun, mein Sohn, ich habe diesen Schuh am Fuß von
jemand auf der Hochzeit gesehen. Was sucht der denn im Bassin! Hoffentlich
haben die Räuber ihr nicht den Weg versperrt und sie in die Berge
entführt. Das würde mir sehr leid tun. Sie war keine, die den
Wölfen und Vögeln als Futter dient. Alle Augen der Hochzeitsgäste
ruhten auf ihr. Soll ich sie eine Huri oder Fee nennen? Wie soll ich sie
nennen? Eine so Schöne war sie! " Als sie fortgegangen war, fiel ein
Feuer in das Herz des Königssohnes. Ohne zu zögern trieb er die
Reiter an und ließ sie Berge und Steine durchkämmen und die
Erde Schritt für Schritt absuchen. Als die Reiter mit hängenden
Köpfen zurückkehrten, hatte sich das Feuer noch vergrößert.
War es möglich, daß seine Funken nicht auf das Schloß
sprühten? Sein Vater und seine Mutter auf der einen, der Wesir und
die Minister auf der anderen Seite begannen schmerzbewegt über die
Sache zu sprechen. Der solcherart bestickte Schuh kam aus dem Bassin zum
Audienzsaal, vom Audienzsaal zum Ministerrat, es wurde viel geredet. Drei
Tage und drei Nächte dauerte die Haarspalterei. Sie spannen die Angelegenheit
tausendfach aus. Alles ging ins Leere, es war wie ein Faß ohne Boden.
Sie kamen zu keinem Ergebnis. Das, was sie redeten, füllte nicht einmal
einen Nußkern. Da sagte ein erfahrener Wesir: "Ach, ergraute Leute!
Uns fliegt kein Vogel fort, keine Karawane kommt vorbei. Wie kann man da
von vierzig Räubern sprechen? Warum durchkämmt ihr nicht die
dortige Gegend? Wenn dieses Mädchen keine Fee, sondern ein Menschenkind
ist, hat sich die Erde nicht geteilt und sie verschlungen, sondern sie
wird arbeiten, essen und irgendwo wohnen. Wir wollen zwei von den weißen
Eunuchen wählen und sie von Tür zu Tür ziehen lassen. An
wessen Fuß der Schuh paßt, dem gehört er. Wenn Gott es
so bestimmt, werden wir ein großes Hochzeitsfest feiern. Der Befehl
steht unserem Padischah zu!" Nun hatte aber der Padischah hinter dem Gitterwerk
das alles mit angehört und hielt diese Worte für vernünftig
und klug. Von jenem Tage an durchzogen die weißen Eunuchen, den bestickten
Schuh in der Hand, den Befehl des Padischahs auf den Lippen, siebzig Stadtviertel
von Tür zu Tür, bis sie zum Haus der hartherzigen Frau kamen.
Die Stiefmutter nahm den Schuh aus der Hand der weißen Eunuchen und
wollte ihn an ihren Fuß ziehen, aber es ging nicht. So nahm sie ihn
und wollte ihn an den Fuß ihrer Tochter ziehen, aber auch ihr paßte
er nicht. Da die Eunuchen hier nicht finden konnten, was sie suchten, wandten
sie sich an eine andere Tür. Da sagte eine Nachbarsfrau: "Na, es wird
ja schon nichts von der Stickerei verlorengehen, wenn das Waisenmädchen
ihn auch mal anprobiert. Was ist denn schon dabei? Ist denn das Mädchen
nicht auch eine Tochter dieses Hauses?" Da runzelte die Stiefmutter die
Stirn und sagte: "Bei Gott, Nachbarin, du bist aber gut! Was gibt es schon
bei ihr, die weder einem Kind noch einer Tochter gleicht! Sie lebt im Stall
wie Heidekraut. Die Nase dessen, der sich ihr nähert, kann es vor
Gestank nicht aushalten. So etwas kann man den Leuten nicht vorführen!"
Da aber die weißen Eunuchen merkten, daß da etwas nicht stimmte,
sprachen sie: "Frau, der Befehl kommt von höchster Stelle. Wir machen
keine Unterschiede. Ist das Mädchen nicht auch ein Geschöpf Gottes?"
Als sie darauf bestanden, ging die Stiefmutter gezwungenerweise zum Stall
und öffnete die Tür. Da sahen die Eunuchen -
was
sollten sie sehen -,
daß das, was man Waisenmädchen
nannte, keineswegs dem Heidekraut ähnelte und auf dem Misthaufen gewachsen,
sondern wie eine Rose geworden war. Sie zog den Schuh an und er paßte
ganz genau auf ihren Fuß. Da biß sich die Stiefmutter auf die
Zunge und den Eunuchen blieb der Finger im Munde stecken. Was auch immer
die würdigen Eunuchen machten, sie konnten keinen Laut aus dem Munde
des Mädchens herausbringen, aber sie konnten alles aus ihren Augen
ablesen. "Mädchen", sagten sie, "Gott hat in dein Gesicht geblickt.
Ein Glücksvogel wird sich auf deinem Haupte niederlassen. Mach dich
dazu bereit!" Gut, aber konnte die Stiefmutter das ertragen? Sie beabsichtigte,
eine List anzuwenden und ihre eigene Tochter an die Stelle des Waisenmädchens
zu setzen, um sie als Braut ins Serail zu bringen. Freilich, wer das Minarett
stehlen will, muß sich zuvor die passende Hülle verschaffen.
Um Mund, Gesicht und Augen ihrer Tochter zu schmücken, gab es keine
Farbe, die sie nicht angewandt hätte. Aber was kann bei ihrer Natur
die Farbe noch ausrichten! Da wird bald der falsche Schein herauskommen.
Doch das Auge der Mutter war so geblendet, daß sie nicht die Außenseite
ihrer Nase sehen konnte. Früh am Morgen, als die Brautwerberinnen
zur Tür kamen und anklopften, brachte die Stiefmutter ihre eigene
Tochter, die sie aufgeputzt und aufgeschmückt hatte, und setzte sie
an ihre Seite. Nachdem die Brautwerberinnen ihren Kopf hochgehoben und
sie so von Kopf bis Fuß gemustert hatten, meinten sie: "Na, soll
sich der Mond an einem solchen Tage hinter einer Wolke verbergen? Öffnet
den roten Schleier, damit wir einmal das Gesicht der Braut sehen können."
Als die Stiefmutter kein Gehör schenken wollte, erhob sich eine der
Brautwerberinnen und zog den Schleier fort.
Was
sollte sie da sehen!
Die Ausgeburt eines Menschen, Zähne wie
Schaufeln, dreieinhalb Haare, Hüften ohne Taille. Wenn du nach den
Augen und Augenbrauen fragst, so waren diese vor lauter Schminke nicht
zu sehen! Sie trauten ihren Augen nicht. "O Gott, o Gott! Ist denn das
diese, die die weißen Hofbediensteten als Rose bezeichneten? Wo ist
denn das Gegenstück zu dem Schuh, der ins Bassin gefallen ist?" Nach
diesen Worten geriet die Stiefmutter in äußerste Verzweiflung
und begann stotternd: "Als der eine Schuh ins Bassin gefallen war, habe
ich den anderen in den Bach geworfen!" "Wo ist denn der Bach?" "Ein Ochse
hat ihn ausgetrunken." "Wo ist der Ochse?" "Er ist nach dem Berg gelaufen."
. " Wo ist der Berg? " "Er ist verbrannt und zu Asche geworden." Dieserart
häufte sie Lüge auf Lüge und versuchte den Palastdienern
Sand in die Augen zu streuen. Aber wartet mal ab, was Gott machen wird!
Der Hahn mit dem Ohrgehänge trat an die Türe und begann zu krähen:
"Das Waisenmädchen ist im Wärmekasten, im Wärmekasten. Das
Waisenmädchen ist im Wärmekasten, im Wärmekasten . . ."
Da rief die Oberste der Palastbediensteten: "Gott bringt dieses stumme
Geschöpf ohne Sprache zum Reden!" und lief geradenwegs zum Wärmekasten
hin. Die Stiefmutter richtete sich vor ihr auf: "Bei Gott, Tante Sultan,
mir mit meinem reinen Mund glaubt ihr nicht, aber wollt ihr denn dem Hahn
glauben?" So versuchte sie, die Sache zu vertuschen. Als aber die Tante
Sultan das Schreiben vorgezeigt hatte, konnte sie nichts mehr machen. Konnte
sie jetzt noch den Trick, den sie angewandt hatte, ausführen? In Angstschweiß
gebadet, ging sie zum Wärmekasten und hob den Deckel auf.
Was
sollten sie da sehen!
Jene Weltenschöne, die man damals auf
der Hochzeit gesehen hatte! Was sie dort antrafen, konnten sie nicht wissen.
Jetzt erst begann das Waisenmädchen zu reden und zählte all das
der Reihe nach auf, was es durch die Stiefmutter erduldet hatte. Da füllten
sich die Augen der Tante Sultan mit Tränen: "Du hartherzige Frau!
Fürchtest du dich denn nicht vor Gott? Jetzt werde ich dem Sultan
vortragen, was du alles getan hast. Wähle, was du willst: vierzig
Hackmesser oder vierzig Maultiere." Da blickte die Stiefmutter einmal in
das Gesicht ihrer eigenen Tochter, ein andermal in das Gesicht ihrer Stieftochter
und senkte ihren Kopf. Da sagte das Waisenmädchen: "Liebe, gutmütige
Tante! Was sie mir angetan hat, kann man weder mit vierzig Hackmessern
noch mit vierzig Mauleseln bezahlen. Nun, sie ist auch eine Mutter und
hat eine Tochter. Was mir geschehen ist, soll ihr wenigstens nicht geschehen.
Wenn ihre Mutter ihre Sünden mit ihrem Blut bezahlt, dann wird ihre
Tochter wie ich in die Hände einer Stiefmutter kommen. Am besten überlasse
ich es Gott. Teilt es weder dem Padischah noch dem Königssohn mit!
Es soll ein Geheimnis zwischen uns bleiben!" Da kamen Mutter und Tochter
und küßten ihre Hand und ihren Rocksaum, aber sie ließ
das nicht zu, sondern beugte sich zu ihnen und küßte ihnen Gesicht
und Hände. Danach holte sie ihr verborgenes Bündel, kleidete
sich so schön wie Rosen an und wiegte sich anmutig wie Zypressen vor
ihnen. Die große Welt auf der einen, sie auf der anderen Seite. Hätte
sie ihre goldgelbe Kuh und ihren Hahn überhaupt vergessen können?
Sie ließ beide zum Gutshof des Serails bringen, sie stieg in die
Hochzeitskutsche und fuhr fort mit der Tante Sultan . . . Das ganze Serail
freute sich und schmückte sich; vierzig Tage und vierzig Nächte
wurde Hochzeit gefeiert, eine so große Hochzeit, daß sogar
das Schicksal um ein Jahr älter wurde. Das Waisenmädchen und
der Königssohn hatten nun ihren Wunsch erreicht. Auch wir wollen daran
teilhaben. Vom Himmel fielen drei Äpfel in den Schoß der Waise,
die nie gelacht hat.
(gefunden bei:
internet-maerchen.de)
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